21
Vier Wochen waren bereits vergangen, seit Willem London widerwillig verlassen hatte. Und noch immer hielt er sich in Sils-Maria auf.
Obwohl es seit Jahren sein Wunsch war, Florenz, Venedig und vor allem Rom mit eigenen Augen zu sehen, hatte ihn bislang der Mangel an Zeit und Geld davon abgehalten, nach Italien zu reisen. Jetzt hatte er sowohl Geld als auch Zeit. Dennoch zögerte er, die nahe Grenze zu überschreiten. Zum einen befürchtete er, die Realität in dem Land, in dem die Zitronen blühen, könnte seinen hohen Erwartungen nicht standhalten. Zum anderen glaubte er, auf Italien noch nicht ausreichend vorbereitet zu sein. Er verbrachte deshalb einen großen Teil des Tages damit, Reisebeschreibungen über Italien zu lesen. Auch hatte er angefangen, Italienisch zu lernen. Was Willem aber vor allem zurückhielt, war die trübe Aussicht, die Eindrücke einer Italienreise mit niemandem teilen zu können.
Willem war in Sils-Maria in einem kleinen altmodischen, aber komfortablen Hotel abgestiegen. Die meisten Gäste waren wesentlich älter als er und kamen aus aller Welt. Das Abendessen wurde an einer gemeinsamen Tafel eingenommen. Willem genoss die stets lebhaften, wenn auch oberflächlichen Tischgespräche. Von Deutschen, Franzosen und Amerikanern wurde er in der Regel für einen Engländer gehalten. Engländer hielten ihn für einen Holländer oder Skandinavier. Beides war ihm recht. Wenn ihn jemand danach fragte, gab Willem vor, bei einer belgischen Versicherung beschäftigt zu sein. Er wollte die leidigen politischen Diskussionen vermeiden, die sich erfahrungsgemäß ergaben, wenn er seinen tatsächlichen Beruf nannte. Auch sicherte sich Willem das Mitgefühl der anderen Gäste, indem er behauptete, er sei aus gesundheitlichen Gründen nach Sils-Maria gekommen.
Beinahe täglich fuhr er ins benachbarte St. Moritz, um sich mit englischen Zeitungen zu versorgen, oder er lieh sich die Zeitungen der englischen Gäste aus. Seit er in der »Times« gelesen hatte, dass die britische Polizei nach Michail fahndete, hatte er nichts mehr, nicht die kleinste Meldung, über den Fall »Hewitt« entdecken können. Willem ging aber davon aus, dass Michail längst gefasst worden war, wenn er sich nicht sogar selbst der Polizei gestellt hatte.
Zunächst hatte sich Willem in der ebenso behaglichen wie biederen Atmosphäre seines Schweizer Refugiums einigermaßen sicher gefühlt. Doch mit jedem Tag, an dem er die Zeitungen ergebnislos durchblätterte, wuchs die Ungewissheit, ob die Polizei nicht doch schon seine Spur verfolgte. Schließlich war er unter Willem Breuk im Hotel gemeldet, da er bei der Ankunft seinen Pass vorlegen musste. Und dass er als Wohnort Antwerpen angegeben hatte, würde seine möglichen Verfolger kaum in die Irre führen.
Aber wie gefährlich wäre es für ihn, nach London zurückzukehren? Tagelang grübelte Willem über dieser Frage, bis er endlich eine Antwort fand. Er wählte Nikitas Telefonnummer.
»Hallo?«
Die Stimme, die sich mürrisch am anderen Ende der Leitung meldete, erkannte Willem sofort.
»Patrick, ich bin es, Willem. Erinnerst du dich an mich? Wie geht’s dir?«
Er gab sich alle Mühe, möglichst freundlich und unbeschwert zu klingen.
»Willem?« Im nächsten Moment war bei dem Iren der Groschen gefallen. »Willem, der Journalist. Ja, ich erinnere mich. Was willst du?«
Die Frage klang ebenso unfreundlich wie misstrauisch.
»Ich wollte Nikita sprechen. Ich habe ein Problem mit meinem Wagen. Und ich dachte, Nikita könnte ihn sich vielleicht mal ansehen.«
»Nikita? Weißt du denn nicht, was geschehen ist? Nikita ist tot!«
Willem machte eine künstliche Pause, bevor er antwortete.
»Nikita ist tot? Oh, mein Gott!«
»Ja, man hat Nikita umgebracht. Und du weißt nichts davon?«
»Nein, das ist ja schrecklich. Wann ist das passiert? Und warum?«
»Bist du denn nicht in London? Es hat in allen Zeitungen gestanden«, sagte Patrick entrüstet.
»Nein, ich bin seit fünf Wochen nicht mehr in London. Ich musste nach Belgien aus familiären Gründen. Aber sag doch bitte, was los ist. Ich habe wirklich nichts mitbekommen.«
Willem spürte Patricks Zögern. Dann antwortete er doch, widerwillig, in belehrendem Ton. Er erzählte Willem genau das, was auch in den Zeitungen gestanden hatte, dass man Nikitas Leiche auf einem Gleis gefunden hatte, von der Schusswunde, und davon, dass man ihn offenbar erstickt hatte, von der Entführung, und auch davon, dass man Michail verdächtigt hatte.
Hier unterbrach Willem den Iren.
»Michail? Aber ich dachte, Nikita und Michail seien Freunde. Ich meine, waren Freunde«, verbesserte sich Willem.
»Natürlich waren sie das. Aber die Polizei hat trotzdem nach Michail gesucht.«
»Und hat sie ihn gefunden?«
Willem hoffte, seine Frage hatte nicht allzu neugierig geklungen.
»Ja, sie haben ihn sogar eingelocht, die Idioten.« Patrick lachte plötzlich. »Aber sie mussten ihn wieder laufen lassen. Er hatte nämlich ein hieb- und stichfestes Alibi. Ein besseres Alibi konnte Michail gar nicht haben. Weißt du, wo er an dem besagten Wochenende war?«
Das wusste Willem selbstverständlich nicht.
»Du wirst es nicht glauben!«, Patrick lachte wieder, beinahe hysterisch. »Michail war im Knast, in Brighton. Er hatte sich dort mit Andrea – du kennst ihn, den Italiener, den Pizzabäcker – ein feuchtfröhliches Wochenende gemacht. In irgendeinem Club haben die beiden versucht, ein paar Engländerinnen anzumachen. Aber die Freunde der Mädchen waren gar nicht damit einverstanden. So kam es zu einer heftigen Schlägerei. Und am Ende haben die Bullen Michail und Andrea und die Engländer allesamt in den Bau gesteckt. Für ganze achtundvierzig Stunden. Na ja, im Nachhinein kann Michail sogar darüber heilfroh sein.«
»Michail ist also wieder frei?«
Patrick wurde wieder ärgerlich.
»Das schon. Aber die Briten haben ihn abgeschoben. Erst ließen sie ihn laufen. Doch nach ein paar Tagen sammelten sie ihn wieder ein und setzten ihn gleich in die nächste Maschine nach Moskau. Michail hatte nur ein Studentenvisum. Und die Polizei sagte, er hätte gegen die Aufenthaltsbestimmungen verstoßen. Wenn du mich fragst, wollten die Idioten ihn einfach loswerden, damit er nichts über ihre stümperhaften Ermittlungen ausplaudern konnte. Ich sag dir, die Briten sind alle Schweine.«
Willem war zufrieden, so zufrieden, dass er Patrick vorbehaltlos zustimmte.
»Aber wer hat denn Nikita umgebracht?«
»Keine Ahnung. Aber ich sag dir, die Briten haben noch weniger Ahnung.«
Dann stellte der Ire Willem eine Frage, mit der er nicht gerechnet hatte.
»Weißt du, wo Pia ist? Sie ist seit Nikitas Tod wie vom Erdboden verschwunden.«
Willem überlegte eine Sekunde, ob er Patrick die Wahrheit sagen sollte, dass Pia in Spanien sei.
Aber dann sagte er: »Nein. Ich weiß nicht, wo Pia steckt. Ich habe sie seit dem Abend bei euch nicht mehr gesehen. Das war auch das letzte Mal, dass ich Nikita sah.«
»Merkwürdig, dass sie sich nicht gemeldet hat.«
Patrick wurde nachdenklich.
»Ich glaube, sie hatte mit Nikita Streit«, sagte Willem dann, um Patrick nicht all zu viel Zeit zum Nachdenken zu lassen. »An dem Abend, als ich mit beiden bei euch aß, hatte Nikita von ihr verlangt, ihren Job aufzugeben. Du weißt ja, dass sie in so einem Schuppen mit Table-Dance arbeitete. Das passte Nikita nicht.«
»Was? Davon hat er mir nie etwas erzählt.«
»Doch, doch«, versuchte Willem Patrick zu überzeugen. »Sie sagte Nikita, dass sie den Job nur aufgeben würde, wenn er mit ihr nach Spanien ginge. Das wollte Nikita wiederum nicht. Vielleicht ist Pia daraufhin allein nach Spanien zurückgegangen. Aber ich weiß es nicht, wirklich nicht.«
»Pia wird doch nichts mit der Entführung zu tun haben?«
»Nein, das glaube ich nicht«, brachte Willem möglichst überzeugend hervor.
»Du kennst sie besser als ich«, sagte Patrick. »Falls du von ihr hörst, sag ihr bitte, dass sie mich anrufen soll. Und wann bist du wieder in London?«
»Ich bin mir noch nicht sicher, wann ich hier weg kann. Meine Mutter ist nämlich gestorben, und ich habe hier deshalb noch allerhand zu regeln.«
Willem glaubte zu bemerken, dass Patrick in diesem Augenblick zusammenzuckte.
»Mein herzliches Beileid«, sagte Patrick verlegen, ebenso verlegen, wie er selbst auf den Tod von Johns Mutter reagiert hatte, dem Mann, dem er unmittelbar vor seiner Abreise aus London begegnet war. Willem war stolz auf seine Lüge.
»Ich danke dir.«
»Dann vielleicht bis demnächst.«
Patrick schien immer noch verlegen.
»Ja, vielleicht. Auf Wiedersehen.«
Willem hörte nur noch, wie Patrick auflegte.
Die Frage, die Willem mehr als alles andere interessierte, hatte er Patrick nicht gestellt: Hatte Michail seinen Namen, gleich in welchem Zusammenhang, gegenüber der Polizei erwähnt? Denn nur durch Michail könnte die Polizei darauf kommen, dass es zwischen ihm und Nikita eine Verbindung gab, ja überhaupt von seiner Existenz erfahren. Aber er hatte Patrick die Frage nicht stellen können, ohne sich verdächtig zu machen. Zwar konnte Willem diesen rothaarigen Iren nicht ausstehen. Aber er hielt ihn nicht für dumm. Er hielt ihn für verschlagen. Ob Patrick ahnte, dass Willem mit der Entführung und Nikitas Tod zu tun hatte? Willem war sich nicht sicher. Aber er vermutete, dass Patrick Pia in Verdacht hatte, an der Entführung beteiligt gewesen zu sein. Patrick hatte seinen Verdacht sogar mehr oder weniger deutlich am Telefon ausgesprochen. Und er wünschte Pia zu sprechen. Warum? Um sie zu erpressen?
Dann fiel Willem ein, dass Patrick in der ganzen Geschichte noch tiefer drinsteckte als Michail, auch wenn er sich selbst darüber nicht im Klaren sein mochte. Michail war der Polizei dadurch aufgefallen, dass Nikita seinen weißen Lieferwagen für die Entführung benutzt hatte. Patrick hatte Nikita die Waffe geliehen. Das wusste die Polizei nicht. Aber Patrick musste befürchten, dass es seine Waffe war, mit der Hewitt erschossen wurde, und dass die Polizei davon erfahren würde. Vielleicht wollte er deshalb Pia sprechen. Um sie zu fragen, wo die Waffe abgeblieben war. Willem war froh, dass er das Ding noch nicht weggeschmissen hatte. Es lag immer noch im Handschuhfach seines Alfas.
Um zu vermeiden, von den anderen Gästen in eine Konversation verwickelt zu werden, aß Willem in einem anderen, größeren und eleganteren Hotel zu Abend. Er wollte einfach für sich allein sein. Nach seiner Rückkehr ging er gleich auf sein Zimmer und legte sich aufs Bett. Nach kurzer Überlegung rief er Pia an.
Eine junge Frau meldete sich. Es war offenbar Pias Schwester. Da er kein Wort Spanisch sprach und sie keine andere Sprache beherrschte, gestaltete sich die Unterhaltung äußerst schwierig. Er glaubte zu verstehen, dass Pia Barcelona verlassen hatte. Dann fragte Willem die Schwester in radebrechendem Italienisch nach Pias neuer Telefonnummer, die sie ihm wiederum auf Spanisch durchgab. Anschließend wählte er die Nummer.
Gott sei Dank, er hatte sie sich richtig notiert. Denn Pia meldete sich, gut gelaunt wie immer. Sie hatten nicht mehr miteinander gesprochen, seit sie sich in London getrennt hatten. Zunächst musste er Pia alles erzählen, was er in den Zeitungen über den Stand der polizeilichen Ermittlungen gelesen hatte. Erst dann gab er das Gespräch wieder, das er mit Patrick geführt hatte. Willem sagte ihr auch, warum Patrick sie vermutlich sprechen wollte. Pias gute Laune schien zu schwinden.
»Ach, Will, mir ist eigentlich völlig egal, was Patrick denkt. Ich konnte ihn noch nie leiden.«
»Ich auch nicht«, sagte Willem. »Aber glaubst du, dass er uns gefährlich werden könnte?«
»Nein, der wird schön seinen Mund halten, selbst wenn er wirklich etwas wüsste. Vergiss nicht, dass ich mit seinem Revolver auf Hewitt geschossen habe.«
Willem war froh, dass Pia das sagte. Sie dachte also genauso wie er.
»Wo habe ich dich jetzt eigentlich erreicht?«
»Ich bin in einem kleinen Dorf in der Nähe von Malaga. Du wirst es nicht kennen. Es ist wunderschön hier. Und ich bin wunderschön, Will. Du müsstest mich sehen, erholt und braungebrannt und wieder mit langen Haaren. Du würdest dich in mich verlieben.«
»Aber das bin ich doch, Pia, das bin ich immer gewesen.«
»Und wo bist du, alter Lügner?«
»Ich bin schon seit ein paar Wochen in der Schweiz. Ich will aber nach London zurück, vielleicht schon morgen.«
»Was du nur an London findest! Aber ich wünsche dir, du wirst dort glücklich werden.«
»Das werde ich, Pia, ganz bestimmt.«
»Melde dich wieder bei mir! Versprochen?«
»Versprochen. Auf bald.«
»Auf bald, Will.«
Am nächsten Tag machte Willem einen langen Spaziergang um den See. Er gehörte eigentlich nicht zu denen, die sich im Anblick der Natur der lyrischen Bewunderung ihrer Großartigkeit überlassen. Willem war durch und durch Städter und sehnte sich nach der Geschäftigkeit Londons zurück, seinen Straßen, Pubs und Cafés. Und die gestaltete Natur der Londoner Parks war ihm lieber als die willkürliche der Schweizer Berge, die er in den letzten Wochen manches Mal als feindselig und bedrückend empfunden hatte. Doch in dieser späten Vormittagsstunde gab er sich dem klaren Grün der Wälder und Weiden, dem klaren Blau des Himmels und dem klaren Gelb der Sonne vorbehaltlos hin.
Er verließ Sils-Maria, bog vor einer schmalen Brücke in einen Feldweg ein, der durch Wiesen direkt zum Ufer führte. Mal grau, mal grün, mal silbern schimmernd breitete sich der See unter der prallen Sonne aus. Im Schatten eines pyramidenförmigen Granitfelsens, der sich unmittelbar am See erhob, ließ sich Willem nieder und beobachtete, in die eigenen Gedanken versunken, wie die Wellen weich das Spiegelbild der bewaldeten Berge zurückwarfen. Nur das sanfte Rauschen der Gebirgsbäche war zu hören. In diesem Augenblick fühlte er sich der Welt und den Dingen gänzlich entfremdet und teilhaftig zugleich.
Nur einmal hatte Willem ähnlich empfunden, in jenen Stunden in Pias Appartement hoch über London. Da hatte er erfahren, was Tod ist und was Leben sein kann. Er hatte es durch Nikitas Sterben sowie Pias und seine Lust erfahren. Da hatte er nicht gezögert, nicht nur zugeschaut, sich nicht den Dingen entzogen. In jenen Stunden hatte er sich selbst überwunden, war zu dem geworden, was er immer sein wollte: handelnde Figur in einer Geschichte. Es war die Stunde seiner zweiten Geburt gewesen. Den Willem, der sich ziellos durch Londons Straßen treiben ließ, der nur auf das Leben wartete, gab es nicht mehr. Der war gestorben.
Willem blickte direkt in die Sonne, schloss die Augen, spürte die Kraft der Sonne durch seine Lider. Wie klein und kläglich kam ihm jener vor, der er gewesen war. Und wie klein und kläglich kam ihm die Schuld vor, die ihn gequält und bis an den Rand der Verzweiflung gebracht hatte. Was hatte er sich denn vorzuwerfen? Die Entführung war zwar seine Idee gewesen. Aber es war auch nichts als eine Idee gewesen.
Er dachte an jenen Moment zurück, als er mit Nikita im weißen Lieferwagen am Haus der Hewitts vorbeigefahren war und sie Patricia gesehen hatten. Hatte er da nicht sogar versucht, Nikita von der Entführung abzuhalten? Wäre er überhaupt im Stande gewesen, seinen eigenen Plan in die Tat umzusetzen? Nikita und Pia hatten die Entführung ausgeführt, nicht er. Sie hatten es getan. Sie hatten ganz ohne ihn ihre Entscheidung getroffen. Und es war nicht er gewesen, der Hewitt erschossen hatte. Es war Pia gewesen. Und es war Nikita, der ihr die Waffe gegeben hatte.
Genauso wenig war er schuld an Nikitas Tod. Hewitt hatte geschossen. Und es war Pia, die ihn schließlich tötete. Sie hätte sich aus seinen Armen befreien können, als er sie festhielt und sie auf Nikita saß, wenn sie es nur wirklich gewollt hätte. Nein, er hatte sich nichts vorzuwerfen. Nichts, außer dass auch er leben wollte.
Aber musste er sich überhaupt für irgendetwas entschuldigen? Jede Entschuldigung war klein und kläglich. War sein Schuldgefühl nicht nur eine Dummheit gewesen, nur das Produkt eines schrecklichen Wahns, dass es eine Schuld gebe? Willem wurde klar, dass das, was er getan hatte, nur ein Reflex gewesen war, nur aus Furchtsamkeit geschehen war. Seine Schuld schien ihm ebenso banal wie das Böse selbst. Sie war nichts weiter als Ausdruck seiner Angst gewesen.
Ein leichter Wind kam herab von den Bergen, ging über den See hinweg, kam auf Willem zu, strich durch sein Haar. Er schauderte für einen Moment. Dann war die Luft wieder still und klar. Jedes Schuldgefühl war verflogen, vertrieben von seinem Willen zu leben. Ja, er würde leben, immer wieder ja, sagte er laut zu sich. Aber er schämte sich nicht mehr, laut zu sich selbst zu sprechen. Denn es waren nicht mehr Worte der Verzweiflung, die er sprach, sondern Worte seines neuen Lebenswillens.
Ja, er würde leben, leben mit ihr, Anne-Marie, früher oder später. Auch diese Herausforderung würde er meistern, wie er Nikitas Sterben und Pias Lust gemeistert hatte, alles.
Willem erhob sich, heiter und gelassen, verließ das Ufer und setzte seinen Spaziergang nach Silvaplana fort. Er ging durch den Ort hindurch bis zu einem Bach, stieg einen steilen Waldweg hinauf, der ihn nun auf der anderen Seite des Sees zurück nach Sils-Maria führte.
Morgen würde er es wagen. Er würde nach London zurückkehren. Während sich vielleicht schon in wenigen Wochen Schnee auf die Schweizer Berge legte, würde sich in London der Herbst noch halten, dachte Willem, für ihn die schönste Jahreszeit, um durch den Holland Park zu streifen. Ja, er würde nach London zurückkehren, wo jetzt das Leben auf ihn wartete.